St. Nikolaus Kathedrale

Ich war erleichtert, als Samiel sich dennoch bereiterklärte, das Tor wieder zu öffnen. Als wäre eine grosse Last von mir genommen worden atmete ich auf. Ich beobachtete seine erneute Verwandlung mit grossem Interesse und siehe da, mir ging ein Licht auf. Befand sich der gefallene Engel also in solch heiligen Gebäuden wie hier, erhielt er seine göttliche Erscheinung - ausserhalb jedoch, war er der kleine, süsse, unschuldige Samiel, dem ich aus irgendeinem unerklärlichen Grund blind vertraute. Auch bei dieser Erkenntnis ging mir wieder mein Herz auf und ein Stein fiel von eben diesem. Ich folgte ihm rasch auf den Stadtplatz auf welchem sich schon jetzt einige Menschen versammelt hatten. Diese Kathedrale war also auch noch ein Touristenwunder. Hatte ich schon erwähnt, dass ich Touristen hasse? Nein? Dann wisst ihr es jetzt. Diese elenden menschlichen Touristen, die sich daran aufgeilen fremde Orte zu fotografieren. Ich will nicht wissen, was passiert, wenn die Elfenwelt allgemein bekannt wird, man das Sternentor passierbar macht und die Regierung dieser Affen meine Welt für den Tourismus freigibt. Ich glaube ich begehe unverzüglich Selbstmord, sollte dies geschehen.

tbc: Stadtplatz

Na gut... Samiel erhob sich und das Tor sprang wieder auf einen Wink hin auf. Er durchschritt es noch vor Isilên. Er warf ihm beim Durchschreiten der Tür einen Blick über die Schulter zu. Isilên konnte sehen, wie das Gold aus den Augen verschwand, sie blassblau wurden wie zuvor. Das stolze Gesicht wurde blass, farblos, der Engel verlor seine Schönheit und war wieder die dämonische Kopie seiner selbst, die blasse Gestalt, die jenen Hass auf Vampire hegte, der freudlose gefallene Engel, aber auch das liebe, unterwürfige Wesen, das den Elf als theoretisch überlegenes Wesen vergötterte.

tbc: Stadtplatz

Als das Tor sich mit einem gewaltigen Donnerschlag schloss zuckte ich innerlich - nein, äusserlich blieb ich kalt und ungerührt wie immer - förmlich zusammen. Ich fühlte mich dementsprechend gefangen und auch die lieben, unterwürfigen Worte Samiel's konnten nichts an dieser Tatsache verändern. Tatsächlich aber war ich deutlich zweigeteilt. Einerseits war ich überaus wütend über mein eigenes Verhalten, dass ich dem Engel entgegengebracht hatte, andererseits jedoch verzauberte er mich mit seiner süssen Stimme und seinen goldenen Augen mehr, als er es je mit seiner Gedankenkontrolle tun könnte. Dennoch fühlte ich mich jetzt hier nicht mehr wohl - und auch sein Anblick liess mich mehr und mehr an meiner Realität zweifeln - ich musste hier raus und zwar sofort. Können wir draussen weiterreden?, bat ich ihn monoton und deutete auf die Tür hinter welcher der Stadtplatz lag. An diesen Hokuspokus glaube ich wirklich nicht, aber trotzdem löste das alles hier irgendetwas in mir aus.. ich konnte nur noch nicht genau bestimmen, was.

Samiel winkte einmal, und die eisenbeschlagenen Pforten der Kathedrale schlugen mit wildem Krachen zu, das tausendfach durch die Gewölbe des Kreuzganges lief. Als wieeder etwas hörbar war, flüsterte Samiel, mit seiner süßen, unterwürfigen, kindlichen Stimme: Wer den Herrn beleidigt, darf sein Tor nicht durchschreiten... bitte komm zu mir zurück... nur noch einen Moment... auch wenn du nicht an unseren Hokuspokus glaubst. Er blieb dabei ruhig sitzen, und sah dem Elf nur aus seinen goldenen Augen an. Auch du kennst mich, und du weißt, was mir das bedeutet... musst du mein Leben beleidigen, wenn ich das deine akzeptiere?

Bei der Prozedur lief mir ein eiskalter Schauer über den Rücken. Diese Schönheit hatte mich auf der Stirn geküsst! Ich bekam schlagartig eine Ganzkörpergänsehaut. Was auch immer dieser Engel tat, er berührte meine Seele damit - er liess mich alles andere vergessen und nur im hier und jetzt schweben. Und seine Augen!! Ich erwähnte sie bereits. ♥ Dann offenbarte er mir seinen Namen. Und ich erstarrte zu festgefrorenem Eis. Meine Fassade baute sich so hastig wie nur irgend möglich auf und ich starrte den Engel mit vollem Entsetzen an. Tatsächlich.. Samiel. Ich seufzte innerlich und ich wurde schlagartig in die Realität zurückbefördert - in meine Realität. Der Engel hatte seinen Zauber verloren, Gott war für mich gestorben und die Kirche war ein schönes Gemäuer.. aber eben nur ein schönes Gemäuer. Mit ernstem, kalten Blick starrte ich Samiel in seine wunderschönen, honigbraunen Augen. Und ich erinnerte mich - ich war Isilên Adùne, Elf, würde in wenigen Minuten in den Unterricht gehen und hatte mich einem fremden Engel geöffnet. Ich verfluchte mich innerlich für diesen Fehler. Samiel, du kennst mich, fuhr ich ihn genervt an, sogar besser als manch anderer! Mit diesen Worten erhob ich mich und quetschte mich an ihm vorbei. Und ich bin ein ELF und habe in "Gottes" Hort nichts zu suchen!, rief ich durch die Hallen der Kathedrale. Das Wort 'Gott' hatte ich beinahe spöttisch ausgesprochen. So schnell kann's gehen - da hat man die Meinung geändert. Ich hatte mich verhalten wie ein siebenjähriges Mädchen, gebannt von den Tricks dieser christlichen Kirche. Warum bauten die so gigantische Gebäude? Um die Menschen zu beeindrucken, ihnen das Gefühl zu geben, das könnte gar kein Mensch gebaut haben, ihnen das Gefühl zu geben, dass MUSS ein Gott geschaffen haben. Pah! Billige Tricks einer vermaledeiten Kirche!

Samiel beugt sich zur Antwort vor und tat das, was die Aufgabe eines Kirchenvorstandes gegenüber einem neuen Gemeindemitglied war. Er malte dem Elf mit einem Finger ein Kreuz auf die Stirn; Weihwasser benötigte er nicht. Dann küsste er ihn an der Stelle, wo bei dem symbolischen Zeichen der Schnittpunkt der beiden Geraden lag. Ich bin.. Samiel van Winkle, der verruchte Engel! rief er laut aus, und alle drehten sich nach ihm um, um die Erscheinung anzusehen. Bete, Volk, bete, um den Herrn gnädig zu stimmen! befahl er gebieterisch und alle folgten, die dazu in der Lage waren (also Elfen und Babies ausgenommen). Und wer bist du, mein Sohn?

Zuerst registrierte ich gar nicht, dass dieser wunderschöne Engel, diese göttliche Persönlichkeit, diese Attraktivität in Person Samiel sein sollte. Und als er betete, als seine volle Stimme ertönte, war es, als ginge mein Herz auf, als öffnete sich jede Pore nur um seine Stimme zu empfangen. Auch wenn ich nicht wusste, was ich tat, so kamen auch aus meinem Munde besagte heilige Worte des Betens und auch aus meinem Munde schwoll ein ehrfürchtiges 'Amen'. Dieser Engel, den jeder, alles und jeder, stets lieben würde, diese Schönheit von Lebewesen... und vor allem diese Augen! Oh, diese goldenen Augen! Zum dahinschmelzen, sag ich nur! .. Weiter im Text. Diese Schönheit von Lebewesen jedenfalls, setzte sich auch noch neben mich, neben einen ungläubigen Elf, und sah mir in die Augen! Ich konnte kaum fassen was hier geschehen war. Erst dieses unglaubliche Gebäude, was nur aus der Hand eines Gottes entstammen konnte und nun auch noch dieser charismatische, hübsche Engel mit seinen wunderbaren Augen... Man könnte fast meinen, es gäbe diesen Gott der Menschen wirklich. Später würde ich es abstreiten, aber jetzt... War ich gebannt... W-wer bist du?, fragte ich zaghaft und erwiderte den tiefen, innigen Blick des Engels. Dass dies Samiel darstellen sollte - darauf wäre ich nicht in meinen kühnsten Träumen gekommen.

cf: Isilêns Zimmer

Der Engel durchschritt die schwere Tür langsam. Er genoss es. Die Kühle, die ihm übers Gesicht strich. Er wusste, dass er erblühte. Wer ihm zufällig ins Gesicht sah, konnte bestaunen, wie er, mit jedem Zentimeter, die er durch die Tür schritt, jünger wurde. Die schlaffe, blasse Haut straffte sich und nahm einen lebendigen, leicht bräunlichen Teint an. Seine schmalen Schultern wurden aufrechter, ein aristokratischer Stolz sprach aus seinen honiggoldenen Augen. Die Stimme des Engels, die sonst dünn und unscheinbar, wenn nicht gar unterwürfig wirkte, scholl nun klar und kräftig, wie bei einem geübten Sänger, durch die widerhallenden Gänge der Kathedrale. Er grüßte den Priester, der auf ihn zu eilte, empfing seinen Segen und lachte heimlich. Dann kniete er sich vor den Altar, er schien sogar ein paar Zentimeter größer zu sein als zuvor. Er sprach mit lauter Stimme ein Gebet, und wer ihn hörte, ging auf die Knie und murmelte die selben Worte, und als er aufstand, die Hände zum Kreuz am Ende des Mittelschiffes hob und laut 'Amen' rief, war es, als bebten die Grundfesten der Kirche, sodass alle Gläubigen ängstlich ihre Köpfe bedeckten, um den Zorn des Herrn abzuwenden. Samiel drehte sich um und sagte zu ihnen: Fürchtet euch nicht. Im Haus Gottes ist jede gutes Seele willkommen. Dann setzte er sich zu Isilên auf die Bank und sah ihm tief in die Augen.

cf: Isilên's Zimmer, Akademie

Schon an den Toren der Kathedrale war ich von ihr beeindruckt. Diese architektonische Schönheit. Dieses unglaubliche Gebäude.. so ein schönes Bauwerk hatte ich noch nie gesehen. Nicht mal in der Elfenwelt. Ich war beeindruckt - schwer beeindruckt. Ich betrat die Kirche durch das gewaltige Tor und mir klappte sofort die Kinnlade runter. Hunderte Fresken, tausende schöne Säulen wurden mit so einer liebe zum Detail gemacht worden, dass man hier Tage verbringen müsste, um alles zu entdecken. Diese Stimmung, die hier in der Luft lag.. So gebannt und ehrfürchtig. Diese unglaubliche Stille - ich fühlte mich wohl, sehr wohl. Natürlich waren die Menschen so sehr von ihrem Gott überzeugt. Wenn seine Kirche solch tolle Gemäuer erschaffen konnte, wäre ich vermutlich auch eingetreten - als Mensch. Ich liess mich auf einer Bank nieder und betrachtete den Altar. Wer hing da an diesem Kreuz? Und woher kam dieser wohltuende Geruch? Ich roch.. Weihrauch?